Blüten / Blätter
von Theresa Philo Gruber, 2012
Annabelle Fürstenau fotografiert für ihre Serie Blüten/Blätter Blüten von Zier- und Nutzgewächsen. Sie widmet ihre Aufmerksamkeit denjenigen Pflanzen, die als Protagonisten unserer Kulturgeschichte von ihrer Verbreitung als Gartenschmuck, ihrer medizinischen Anwendung und ihrer symbolischen Rolle in der Malerei erzählen können. Genau betrachtet inszeniert die Fotografin die einzelnen Bestandteile vegetabiler Fortpflanzungsorgane und knüpft dabei an die ästhetische Tradition historischer Bildtafeln an, während sie sich zugleich auf den Ursprung der Botanik als Wissenschaft bezieht: Die Klassifizierung der Pflanzen nach ihren Sexualmerkmalen revolutionierte im 18. Jahrhundert die Naturforschung. Mit seinen Blütenstudien begründete der schwedische Botaniker Carl von Linné die botanische und zoologische Taxonomie.
In wissenschaftlicher Manier greift Fürstenau zum Skalpell und seziert und sortiert. Sie pflückt die Blütenblätter auseinander – »er liebt mich, er liebt mich nicht« –, ordnet sie auf einer weissen Fläche von den zartesten, innersten Frucht- und Staubblättern über die charakteristischen Kronblätter bis hin zu den unscheinbaren Aussenseitern, den Kelchblättern, welche den Blütenstand umkränzen. Das Bildformat bleibt innerhalb der Serie konstant, wird von vielteiligen Blütenständen ganz, von schlichteren Exemplaren nur partiell bedeckt, und ermöglicht einen vergleichenden Blick auf Grösse und Farbgebung der Infloreszenz. Bei ihren Ausstellungsprints legt Fürstenau Wert auf wirklichkeitsgetreue Proportionen, die in dieser Publikation nur auf dem Titelbild gewährleistet werden konnten.
Im Nebeneinander der mannigfaltigen Ausprägungen von Blütenblattformen und ihrer Farbtöne, die wie vorsichtig aufgetragene Proben einer klar leuchtenden Palette und deren dunklere Abstufungen wirken, geben die mit Kalkül zerlegten Blüten das Mysterium ihres Bauplans preis. Fürstenaus Kompositionen weisen über die botanische Sachlichkeit hinaus: Der Betrachter liest die Blütenblätter als gesetzte Lettern eines rätselhaften Alphabets, Fragmente eines Ganzen, das ihm in seiner ursprünglichen Gestalt vertraut, nun fremd anmutet. Die Vorstellungskraft scheitert an der gedanklichen Rekonstruktion, wie angesichts eines Bastelbogens oder eines Schnittmusters. Die einstige florale Bedeutung des Textes lässt sich nicht mehr zusammen kleben oder nähen, sie zerfällt in ein typografisches Ornament.
veröffentlicht in:
»entwürfe – Zeitschrift für Literatur«, Ausgabe Nr. 69 »Blüten« 2012