Blüten / Blätter
von Rainer Danne, 2012
Von Blüten geht ein Reiz aus, der eigentlich nicht an uns gerichtet ist. Sie sind kleine Wunderwerke der Natur - geschlechtliche Fortpflanzungsorgane mit betörender Wirkung auf Insekten, ebenso verführerisch wie schützend und verbergend.
Unsere Freude ist losgelöst davon. Der Genuss bezieht sich auf das Schöne an sich und die Qualitäten, die unsere Seele streicheln. Keine größere Dichtung ist denkbar, die diese Empfindungen unberücksichtigt ließe. Blumen und Blüten sind ein fester Bestandteil der Kulturgeschichte und jeder Künstler, der sich dieses Themas annimmt, kann nicht vermeiden, dass immer ein Zitat gestreift, ein wissenschaftlicher Kontext berührt, auf eine literarische Quelle verwiesen oder ein ikonographischer Bezug mitgedacht wird. Sich in diesem Traditions- und Bedeutungsrahmen zu bewegen, erfordert eine subtile Verfeinerung des Stoffes, um als künstlerische Reaktion authentisch und schöpferisch zu wirken.
Die an Typographien erinnernden Bilder Annabelle Fürstenaus entfalten einen eigenen Zauber und eine stille Poesie, in der die Fragen neu gestellt sind. Steht ein einzelnes Staubblatt in einem visuellen Ordnungssystem mit den anderen Staub-, Kelch- und Kronblättern, Nektardrüsen, Fruchtknoten, Griffeln und Narben noch für die Einheit jeder Blüte, aus deren Kelch es stammt, oder fungiert es nunmehr einerseits als Produkt der Differenz nach einem Prozess der Teilung und Spaltung und andererseits als selbstreferentielles, ästhetisches Zeichen im Rahmen eines kompositorischen Gesamtentwurfes?
So einfach das wiederkehrende, nach derselben Struktur aufgebaute Bildschema konzeptionell anmutet, so ambivalent erscheint sein Zeichen- und Verweissystem. Man fühlt sich an Lawrence Weiners Schriftband für den Fries des Fridericianums in Kassel anlässlich der documenta 7 erinnert: »Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge.« Die subversive Kraft dieser Sprachskulptur entsteht aus der raffinierten Wiederholung einer scheinbar banalen Phrase im Kontext von idealisierender, klassizistischer Architektur und Weltausstellung der Kunst.
Die Tableaus von Annabelle Fürstenau sind reine Fotografie im ursprünglichsten Sinne des Wortes, aber ihnen gehen zwei entscheidende Akte voraus, die zentral erscheinen – das Sezieren der Blüte und die systematische, gestalterische Neuordnung. Die Aufnahmen zeigen einen fragilen, vergänglichen Moment und eine von der Künstlerin sorgsam arrangiert Zeichenfolge, die durch den fotografischen Schnitt durch die Zeitachse dokumentiert werden. Künstlerische Autonomie und Wirklichkeitsaneignung gehen dabei eine nahezu perfekte Symbiose ein. Der doppeldeutige Bezug der einzelnen Bildzeichen zueinander und zum Ganzen überwindet den rein deskriptiven Charakter und Bedeutungsrahmen der Darstellung zugunsten einer höheren künstlerischen Ordnung, die ihre spezifische Realität und Gültigkeit letztlich nur in Form des fertigen Tableaus besitzt.
veröffentlicht in:
Katalog zur Ausstellung »Gottfried Brockmann Preis 2013«, Stadtgalerie Kiel, 2013