Kippbewegungen
von Ines Lindner, 2011
Auch als heimisch bezeichnete Blumen kommen meist anderswoher. Seit Jahrhunderten richtet sich der gärtnerische Ehrgeiz darauf, Formenvielfalt und Farbenpracht zu vermehren. Je nach Struktur und Stand der Blütenblätter reflektieren sie das Licht anders, steigern ein Karmesinrot und Kobaltblau oder entfalten subtilste Farbabstufungen. Nur der geschulte Blick dringt vor zu diesen feineren Tönungen, die sich leicht im Gesamteindruck einer Blüte verlieren. Umso mehr, wenn sie auf inneren Blütenblättern vorkommen, die sich der Wahrnehmung entziehen. Sie sind bei Annabelle Fürstenau ebenso sichtbar wie die Kronblätter. Die Reihen, in denen sie sie anordnet folgt dem Aufbau der Blüte von Außen nach Innen.
Nicht anders als in der Botanik benutzt sie für ihre Zerlegung der Blüten Skalpell und Pinzette. Doch anders als die Botanik interessiert sie sich nicht für die Verallgemeinerung, nicht für Begriff und Nomenklatur, mit der Farbgebung und Morphologie von Gattung und Art erfasst werden. Annabelle Fürstenau geht es um die spezifische Form dieser einen Blüte, genauer: um Form, Textur und Farbverlauf eines jeden Blattes. Durch die Ähnlichkeit benachbarter Blätter in der Reihung tritt die Differenz unübersehbar hervor. Ihre Abfolge, die durch den Weg von den äußeren Blütenblättern zu den inneren bestimmt wird, schließt eine zeitliche ein. Es braucht Zeit, die Blüten zu zerlegen und in dieses serielle Muster zu bringen. Die Dauer des Zerlegens und Arrangierens steht dabei in Spannung zur Verfallszeit des organischen Materials. Die isolierten Blütenblätter verlieren sehr viel schneller Form und Farbe als die Blüte. Die Vergänglichkeit der Blütenpracht ist in Blumenstillleben immer auch Thema. Der Vanitasgedanke klingt an, der in der traditionellen Blumenmalerei für eine dunklere Grundierung und symbolische Bedeutung sorgt. Während Blumenmaler bei aller Detailtreue immer schon auf Allgemeines aus waren, sei es im Dienste der Malerei, sei es im Dienste der Botanik, ist bei Annabelle Fürstenau alles daran gelegen, Farbe und Form genau in dem Moment zu fixieren, bevor sie sich verlieren.
Sie schafft die Rahmenbedingungen dafür, dass sich die Blütenblätter in diesem Moment selbst zur Geltung bringen können. Die einzig angemessene Form dafür ist die Fotografie. Sie zeichnet die nuancierten Farbverläufe jedes einzelnen Blattes auf. Durch die Einrichtung technischer Parameter wie eine schattenlose Ausleuchtung des filegranen Arrangements und die Wahl des Papiers unterstützt die Künstlerin den Eindruck, dass die Formen aussehen wie aquarelliert. Das Technische der Wiedergabe wird zurückgenommen. Das erzeugt eine Spannung zwischen exakter Registratur und malerischem Effekt. Das eigentliche Medium aber ist weder Fotografie noch Aquarell, sondern die organische Materie, ihre Oberflächenstruktur, in der sich das Licht zur Farbe bricht.
Unsere Farbwahrnehmung ist zutiefst geprägt durch die Annäherungen der Kunst an das physikalische Farbspektrum. Deshalb kann Ernst Jünger von der Zinnie schreiben, dass »die Fülle der Pigmente, die sich auf den Blütenblättern niederschlagen wie bunte Kreiden oder Tuschen, auch wie Öl-, Stein- oder Metallfarben, und das wiederum mit zahlreichen Durchdringungen und Vermischungen«. Jünger bezieht sich hier auf die materiellen Farbträger, die in der Kunst zur Anwendung kommen um den Farbeindruck wiederzugeben. Als naturwissenschaftlich geschulter Beobachter, der dies Vermögen stets ins Ästhetische zu wenden weiß, fährt er fort:
»Eine weitere Steigerung ruft die Färbung der Unterseite hervor, die häufig dadurch sichtbar wird, dass jedes Blütenblättchen sich ein wenig wölbt. In anderen Fällen fließt sie säumend auf die Oberseite ein wie Tusche über den feuchten Rand.«1
Jüngers Beschreibung gibt auf alles Acht, was Anabelle Fürstenau in ihren Blättern vor Augen führt. Während Jünger jedoch sich mit Vergleichen behelfen muss, um die so genau beobachteten Farbeffekte zu beschreiben, löst sie das Problem durch die Kippbewegung zwischen Fotografie und Aquarell. So erzeugt sie die Aufmerksamkeit, auf die auch Jüngers Beschreibung es abgesehen hat. Die Basis dafür ist, der Materialität des Gegenstandes Rechnung zu tragen, aber auch der kulturellen Formung des Sehens, durch welche die Ordnung der Wahrnehmung hergestellt wird. Dies bewährt sich gerade da, wo dem Vertrauten das Nichtgesehene abgewonnen wird. Annabelle Fürstenau verfährt für die detaillierte Farb- und Formwahrnehmung von Blütenblättern ähnlich wie Karl Blossfeldt für die Wahrnehmung der Struktur von Pflanzenformen. Auch er arbeitete mit dem Skalpell, wenn nötig, um das Ungesehene an alltäglichen Pflanzen mittels der Fotografie der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Er setzt dafür die Vergrößerung ein. So genau die Aufzeichnung der Details auch scheinen mag, sie schlägt um in ins Abstrakte. Blossfeldt konstruiert auf diese Weise eine universelle Formensprache die der Natur und der Kultur gleichermaßen zu Grunde liegen soll. Seiner Blickanleitung, die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen einem vergrößerten Schachtelhalm, Architekturformen und Totempfählen zu erkennen, folgte die Rezeption in den 1920er Jahren willig.
Bei Annabelle Fürstenau ist es die Schriftanmutung, welche die Anordnung der Details überschreitet. Die Blätter scheinen mit rätselhaften Schriftzeichen bedeckt, einer unbekannten Blütenschrift. Sie verweist jedoch auf nichts als sich selbst. Ihr Geheimnis liegt an der Oberfläche: Die Lektüre erschließt Formen- und Farbreichtum jeweils einer, unverwechselbaren Blüte. Aber die Wahrnehmung bleibt gespannt. Dafür sorgen die Kippbewegungen zwischen den unterschiedlichen Registern von Fotografie und Aquarell, zwischen exakter Registratur und malerischem Effekt.
veröffentlicht in:
Katalog der Ausstellung »Gottfried Brockmann Preis 2011« in der Stadtgalerie Kiel, 2011