Blütenstände

von Prof. Dr. Christoph Schaden, 2012

»Das Problem ist das, was übrig bleibt, wenn alles verschwunden ist.« Baudrillard

Die Lesbarkeit der Natur ist in den Künsten und Wissenschaften gleichermaßen mit dem eigentümlichen Impuls verbunden, in einem Akt des Sondierens und Sezierens etwas Zeichenhaftes zu dechiffrieren, das Sinn erzeugen mag. Diese Zeichen galt es seit jeher ausfindig zu machen und in ein plausibles Ordnungssystem zu überführen. Atlanten und Klassifizierungsbücher des 19. Jahrhunderts zeugen heute noch von diesem obsessiven Paradigma der Welterkennung. In ihnen spiegelt sich eine Textur, die dem Betrachter ein hohes Maß an Orientierung gewährt. Denn allein durch ihre Ansichtigkeit vermitteln sie einen spezifischen Katalog der Zuordnungen und Abgrenzungen, der jedem einzelnen, noch so winzigen Objekt einen Namen, eine Gestalt und einen Platz in der Welt zuweist. Und somit eine Identität.

Annabelle Fürstenau widmet sich in ihrem fotokünstlerischen Schaffen eben jenen visuellen Fallstricken der Identität. Vordergründig löst sie in der Werkserie Blüten/Blätter dabei all die impliziten Versprechen ein, die auf dem Gebiet der Botanik im Ordnungsmodus analytischer Pflanzendarstellungen enthalten sind. Ihre Bildresultate bedeuten auf den ersten Blick ein Höchstmaß an Transparenz. In der Anschauung werden nicht nur die pflanzlichen Relikte, sondern auch das künstlerische Movens und das Medium radikal freigelegt. Daher wecken Fürstenaus Bildinventionen, bei denen es sich stets um akribische Dokumentationen einzeln sezierter Blütenstände nach dem klassischen bildgebenden Verfahren der Fotografie handelt, eine tiefe Vertrautheit. Was sicher auch daran liegen mag, dass sie auf tradierte Bildtypologien Bezug nimmt, wie sie beispielsweise von Karl Blossfeldt und Bernd und Hilla Becher überliefert sind. Entsprechend meint man gerüstet zu sein, endlich einen einzelnen Löwenzahn erkennen, ja lesen zu können. Und gleichsam seine individuelle Schönheit zu begreifen.

Doch ist damit die Frage nach seiner Identität eingelöst? Inwieweit unterscheidet sich der zerlegte Löwenzahn wohl von einem anderen? Offenbart sich in den einzelnen sezierten Teilen nicht ein anderes Wesen als in seiner Ganzheit? Es bleibt weiter ungewiss, in welchen visuellen Parametern überhaupt die Individualität des Objekts verborgen liegt. Und nicht zuletzt auch, ob die kalligrafische Spur der Anordnung, die in den Fotografien von Annabelle Fürstenau so markant hervortritt, vielleicht doch eine falsche Fährte des Erkennens legt. Die Zeichenhaftigkeit der Welt jedenfalls, so offenkundig sie uns ihren fotografischen Blütenblättern zu Füßen liegt, scheint ein Geheimnis zu wahren.

veröffentlicht in:
BLÜTENSTÄNDE Fotografien von Annabelle Fürstenau, White Press, Köln 2012