Natur lesen ohne Worte

Annabelle Fürstenaus Blüten/Blätter zwischen Eikon und Skript

von Lucas Gehrmann, 2013

»Ich habe immer mehr an Bildern gehangen als an Worten […]. Das Letzte wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter«, lässt Christa Wolf die trojanische Seherin Kassandra kurz vor deren Tod sagen.1 Ob mit diesen Bildern innere, imaginierte, erinnerte … Bilder gemeint sein mögen oder real gefertigte, erfahren wir nicht und es soll dies hier auch keinen Unterschied machen. Viel mehr mag im Zusammenhang mit Annabelle Fürstenaus bildnerisch-skripturalem Werkzyklus Blüten/Blätter zunächst der »Wettstreit« zwischen Wort/Schrift und Bild interessieren, der seit dem griechischen Altertum bzw. auch dem mosaischen Bilderverbot immer wieder – bis hin zu Bilderstürmen – Gegenstand von Auseinandersetzungen war. Vor allem dann nämlich, wenn es um Wahrheits- oder Erkenntnisfragen (theologischer, philosophischer, wissenschaftlicher … Art) ging, wurde dem Wort/der Schrift gegenüber dem Bild gemeinhin Priorität eingeräumt, was sich im Zeitalter der (digitalen) Reproduzierbarkeit und Manipulierbarkeit von Bildern nicht wesentlich geändert hat. Auch stand und steht das Bild selten allein, also ganz ohne Worte, vor uns, denn wenn es schon nicht auf Worte (Erzählungen, Literaturen …) zurückgeht und diese also (nur) illustriert, wird es gerne sogleich wörtlich kommentiert, erörtert, »besprochen« – und selbst als es laufen lernte, durfte das Bild nicht lange stumm bleiben. Für die künstlerische Bildproduktion heute gilt zudem, was Eva Maltrovsky in ihrem Buch Die Lust am Text … einleitend konstatiert: »Man kann beinahe keine Ausstellung zeitgenössischer Kunst besuchen, ohne Bilder, Objekte oder Installationen zu entdecken, in die einzelne Wörter, Sätze oder ganze Textpassagen integriert sind.«2

In Annabelle Fürstenaus Blüten/Blätter-Bilder ist kein einziges Wort integriert, und doch könnten sie von der Ferne für Schrift-Bilder gehalten werden, folgt deren Komposition doch der für Schriftzeichen üblichen zeilenweisen Anordnung im Sinne von Buch- oder Manuskriptseiten. Aus geringerer Distanz betrachtet ließen sich die einzelnen Zeichen noch immer als die einer uns unbekannten Schrift/Sprache mit verschiedenen typografischen Varianten interpretieren. Erst aus direkter Nähe und mit geschultem Blick für Pflanzliches wird offenbar, was der Werktitel bereits verrät: es handelt sich um Bestandteile von Blüten, die nach ihren Kategorien bzw. Organen (Frucht-, Staub-, Kron- und Kelchblättern) zeilenweise linear und von oben nach unten auf dem Papier angeordnet sind – Gleiches neben Gleichem, ohne je deckungsgleich zu sein, und pro Seite ein Blütenstand. Nicht die Originale sehen wir dabei, sondern Fotoprints auf mattem Papier, wodurch der Eindruck von Druckgrafik (etwa Farblithografie) entsteht, was wiederum an ältere Botanikwerke denken lässt. Zählt man den Entstehungsprozess der Blüten/Blätter hinzu, sind sie also das Resultat einer Kette von »Abstraktionen« von Natur: Sezieren der Pflanze, Anordnung ihrer Teile, Fotografie, Druck. Damit sind sie auch Hieroglyphen-Tafeln, indem die auf ihnen versammelten Realien Wirklichkeit repräsentieren und sie zugleich umwandeln in skriptorale Zeichen. Da mag zunächst die Assoziation ans Piktogramm auftauchen, wie es Otto Neurath gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz mit folgendem theoretischen Hintergrund entwickelt hat: Phänomene werden sensualistisch erfahren und führen durch Ableitungen zu Hypothesen und Theorien.

Auch wenn Neuraths Piktogramme im Gegensatz zu Fürstenaus Blütenständen in-individuell, also ganz schematisch gestaltet sind, verbindet beide das »sensualistische« Moment der Rezeption ebenso wie auch das von Neurath vertretene enzyklopädische Prinzip: »Aufgrund ihrer alltagssprachlichen Basis ist die Enzyklopädie allgemeinverständlich, sodass sie ein verbindendes Element zwischen Wissenschaft und Gesellschaft darstellt: sie ist nämlich dem gesellschaftlichen Umfeld verfügbar, vermittelt demnach Erkenntnisse auch an die Gesellschaft und gilt deshalb als ‚aufklärerische Vision‘«.3

Kassandras bzw. Christa Wolfs hier eingangs zitiertes Diktum vom Bild, das das letzte Wort habe, nimmt selbst in heutigen Zeiten der »Bilderflut« (die wohl nicht geringere Wörterflut wird gemeinhin weniger expliziert) eine Sonderstellung seiner »Bewertung« ein. Vielleicht aber zeigt uns Annabelle Fürstenau über ihre Kombination von piktoralen/»sensualistischen«, skriptoralen und enzyklopädisch-»wissenschaftlichen« Elementen, dass das Bild letztlich doch mehr von Welt vermitteln kann als das Wort? Ihre Blütenstände, so wir sie zu dechiffrieren vermögen, weisen uns in jedem Fall über den gängigen Weg des Worts zur Natur, wenn auch ganz wortlos.

veröffentlicht in:
EIKON – internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Heft 82, 2013

  • 1 Christa Wolf, Kassandra, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1983
  • 2 Eva Maltrovsky, Die Lust am Text in der bildenden Kunst, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2004
  • 3 Friedrich Stadler, Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1993